Zu meiner Kinderzeit war das ganze doch schon im Umbruch. Die "moderneren" Eltern waren wesentlich ängstlicher, da wurde auch schon mal mit einer Anzeige wegen Körperverletzung gedroht, wenn ein Kind vom Nachbarn eine Backpfeife bekommen hatte oder ähnliches. Das hat komischerweise aber eher zur Verunsicherung beigetragen als zum Gefühl der Sicherheit. Dadurch ist es ja erst zu so dämlichen Situationen gekommen, wie sie heute ganz normal sind. Man traut sich ja kaum noch, einem Kind zu helfen, weil man die Reaktionen der Eltern nicht mehr abschätzen kann. Sieht man einen Achtjährigen mit Zigarette und will ihm klarmachen, daß das ein gewaltiger, gesundheitsschädlicher Blödsinn ist, torkelt womöglich die Mutter mit 3,5 Promille herbei und macht einen noch an dafür.
Die Dorfschulen wurden geschlossen, die Kinder mit Bussen zu Mittelpunktschulen gekarrt. Das Ergebnis war, daß sie Freunde im Nachbardorf hatten, die sie nur unter sehr mühsamen Umständen besuchen konnten, weil sie nicht mal einfach spontan hinlaufen konnten. Das mußte alles erst mit beiden Elternpaaren durchdiskutiert und terminiert werden. So waren sie denn auch zwangsläufig ständig unter Kontrolle des gastgebenden Elternpaares. Wehe, wenn sie sich davonmachten und die Gastgebereltern sahen sich auf der Anklagebank den anderen Eltern gegenüber, weil das eingeladene Kind sich schmutzig gemacht hatte oder gar das Knie aufgeschlagen! Wenn man sein Kind schon wo abliefert, erwartet man ganz einfach, daß man es sauber und heil wieder abholt. Wenn sie einfach zusammen durch das Dorf laufen, gibt es diese Erwartung nicht.
Wenn früher ein Kind in den Teich fiel, zog es einer raus und es bekam zu Hause womöglich noch den Hintern voll dafür. Heute sind viele Teiche aus "Sicherheitsgründen" so abgesperrt, daß Kinder sie gar nicht mehr erreichen können. Fiele heute ein Kind rein, müßte ja der Besitzer des Teiches mit einer Anzeige rechnen, weil der Zaun nicht hoch genug war und er soll schuld sein an dem Unfall. Lacht nicht, das hat es schon gegeben. Kinder waren über den Zaun in einen Garten gestiegen und eins ist im Teich ersoffen. Der Grundstücksbesitzer mußte einen Haufen Geld bezahlen. Diese Sicherheit schränkt aber die Lebensqualität ein, das kann man nicht anders sagen. Hier geht es noch. Wir haben die Bäche und außerhalb des Winters sind da immer Kinder, die Dämme bauen, Wasserräder ausprobieren, Molche beobachten oder im Schlamm pempeln. Diese Kinder sind kerngesund. Diejenigen, die nicht an den Bach dürfen, sind dauernd krank. Die spielenden Kinder tragen alte, abgewetzte und pflegeleichte Klamotten, keine teuren Markensachen, wenn sie pempeln. Das braucht dann keiner. Außerdem haben sie hier überall Tiere um sich herum und sind auf allen Höfen zu Hause, gucken hier und gucken da, lernen dabei auch so einiges. Der Spielplatz ist oft leer. Ist ja auch sowieso nur für die kleineren interessant. Kinder ab 8 oder 10 Jahren finden da nichts Interessantes mehr.
Wie halten Stadtkinder das bloß aus? Da sind schon die Spielplätze verseucht, auf den Straßen können sie nicht spielen, keine Tiere, keine frische Luft, keine Pflanzen, deren Entwicklung im Laufe des Jahres sie beobachten können.....
Kein Wunder, wenn die dann nur noch vor der Glotze hängen oder sich in hirnlosem Konsum ergehen. Die haben ja nichts anderes.
Noch ein Aspekt ist die völlig durchorganisierte Freizeit. Montags Fußball, dienstags Flötenspielen, mittwochs Lauftrainig usw. Dazwischen sind dann noch die Nachhilfestunden, weil nur der im Leben eine Chance hat, der mit Supernoten glänzt.... Wann soll ein Kind denn da spielen? Oder ein Sozialverhalten entwickeln, wenn es andere Kinder nur als Konkurrenten um den nächsten Sportpokal (oder die besseren Noten) kennt? Auch das fing gerade so an, als ich Kind war. Auf den Dörfern einige Jahre später, in den kleinen Städten war das schon im Gange. Ich habe das nie begreifen können. Glücklicherweise hielt mein Vater auch nichts davon und so wurde mir das von meiner Mutter verordnete Voltigieren (igitt, was für eine Quälerei in meinen Augen) erspart. Später wollte er mich dafür in den Tanzkurs zwingen, aber da war ich schon groß genug, um mich vehement dagegen zu wehren.