Mainspaziergang im Kältewinter
Wetter: Vor 50 Jahren fror es Stein und Bein – Zwei Rüsselsheimer erinnern sich – Fluss als „Super-Eisfläche“
In Sibirien fiel das Thermometer in diesem Winter unter fünfzig Grad, in der Ukraine starben bei minus dreißig Grad 738 Menschen an Unterkühlung und auch in unseren Breiten war es heuer viel kälter als sonst, so dass auf dem Main Eisbrecher für den Schiffsverkehr etwa bei Aschaffenburg eine Fahrrinne freihalten mussten.
Ältere Bürger des Kreises Groß Gerau fühlten sich angesichts dieses Kälteeinbruchs an die „Eiszeit“ von 1929 erinnert, als sich Eisschollen auf dem Rhein am „Schwarzen Ort“, einer Stromschleife bei Gernsheim, stauten und die Anwohner das „Wunderwerk der Natur“ vom Ufer aus bestaunten. Vom „grimmigsten Winter seit 1845“ berichten die Heimatchroniken und schildern, wie damals ein Metzger auf dem Eis ein Schwein schlachtete und ein Küfer auf der Eisfläche seine Fässer zusammenbaute.
Vom „strengen Winter zu Beginn des Jahres 1845“ ist überliefert, dass ein Bauschheimer Schmied seinerzeit sogar Pferde auf der Eisdecke des Rheins beschlug und dass die wenig später einsetzende Überschwemmung großen Schaden in der Gemarkung anrichtete.
„Auf der Eisfläche herrschte ein regelrechtes Volksfest“, berichtete Jahrzehnte später, am 25. Februar 1956, das Darmstädter Echo in einer Reportage über eine weitere Eiszeit im Südkreis. Der Rhein war vor fünfzig Jahren erneut zugefroren und ein „girlandengeschmücktes Willkommensschild“ habe damals den „Vater Rhein und all seine Besucher“ begrüßt, die auf einem freigeschaufelten Pfad den Fluss überquerten und in den Kneipen auf der anderen Rheinseite, in Nierstein, Oppenheim und Nackenheim, das Jahrhundertereignis mit Rheinwein begossen.
Die Rheinhäfen, schreibt das ECHO in der Ausgabe vom 16. Februar seien 22 Zentimeter dick zugefroren, 18 große Schiffe steckten im Packeis des Gernsheimer Hafens und die Schifffahrt musste, „als der Rhein eine Eiswüste war“, eingestellt werden. Der legendäre Jahrhundertfrost von 1955 auf 1956 jährt sich in diesen Tagen zum 50. Mal und er weckt auch bei zwei Rüsselsheimern vielerlei Erinnerungen.
Martin Schlappner und Erwin Russenschuck werden jenen Katastrophenwinter nie vergessen. Martin Schlappner, SPD-Kommunalpolitiker und langjähriger Landtagsabgeordneter, hatte seinerzeit das Diplom als Volkswirt in der Tasche, suchte händeringend einen Arbeitsplatz und nahm in der Not an, was sich ihm bot.
Eine ortsansässige Baufirma suchte Hilfsarbeiter für ein Neubauprojekt im K40 bei Opel zum Verlegen von Versorgungsrohren. Martin Schlappner hörte davon und bekam eine der Stellen. Mit dem Fahrrad strampelte der „Siedlerbub“ fortan täglich zweimal von der Böllenseesiedlung hinüber ins Opelgelände. Bitterkalt war’s, die Augen tränten und mehrmals ist Schlappner bei solch einer Tour auf den Feldwegen in den knirschenden Eisfurchen umgekippt. 23 Minusgrade zeigte das Thermometer in jenen Tagen, vom Main her fegte ein eisiger Wind, „aber in der Baustelle war wenigstens der Wind ein bisschen weg“, erinnert sich Schlappner.
Von kalten Wintern und dem zugefrorenen Main kann auch Erwin Russenschuck berichten. Im Winter 55/56 war er 24 Jahre alt, er weiß noch, dass er damals mit seinen Freunden von Rüsselsheim bis nach Ginsheim und zur Mainspitze auf dem zugefrorenen Fluss spazieren konnte. Als das Eis später taute, „gab’s wieder mal Hochwasser und die Mainpforten wurden geschlossen“.
Der Main und das Leben am Fluss haben Russenschucks Kindheit geprägt. Das Elternhaus lag in der Vollbrechtstraße, nur ein paar Schritte vom Main entfernt. Um eine Bahn zum Schlittenfahren zu haben, übergossen die Kinder im Winter den Maindamm mit Wasser und freuten sich, wenn sich über Nacht eine „Super-Eisfläche“ bildete, auf der sie anderntags nach der Schule bäuchlings mit dem Schlitten herunterrutschten und bei zugefrorenem Main bis in die Mitte des Flusses kamen, erinnert sich Erwin Russenschuck.
Die Kindheit am Main hieß für ihn: im Sommer schwimmen, meist in der Flussbadeanstalt, und Paddelbootfahren oder Kicken und Toben auf den Mainwiesen; im Winter lief man Schlittschuh oder spielte Eishockey bis zum Einbruch der Dunkelheit.
Vom Winter 1941 ist dem Rüsselsheimer ein Vorfall in Erinnerung, der böse hätte ausgehen können, aber glimpflich ablief: Auf dem zugefrorenen Main trieb ein Kind auf einer Eisscholle und rief um Hilfe. Aber noch ehe Erwin Russenschucks Bruder mit seinem Paddelboot eingreifen konnte, hatten auch Flaksoldaten der Wehrmacht den Hilferuf in der Opelschmiede gehört und retteten den kleinen Buben vor dem sicheren Tod.
www.echo-online.de